„Wir scheinen uns Genuss bei der Arbeit kaum mehr vorstellen zu können“

Onlineumfrage zu psychischen Ressourcen bei der Arbeit:
Viel Neugier, wenig Genuss

27. Januar 2015 – Die Zukunft der Arbeit stellt uns vor neue Herausforderungen: Flexibilität, Selbstorganisation und ständige Weiterentwicklung sind gefragt. Statt Mitarbeiter zu immer höheren Höchstleistungen „motivieren“ zu wollen, sollten Unternehmen besser Rahmenbedingungen für mehr Wohlbefinden bei der Arbeit schaffen, ist Ilona Bürgel überzeugt. „Engagiert, leistungs- und lernfähig bis ins hohe Alter zu sein, das ist in unserer Anstrengungskultur kaum zu schaffen“, unterstreicht die Dresdner Psychologin und plädiert für eine Konzentration auf psychische Ressourcen und mehr Genuss bei der Arbeit.

In Zusammenarbeit mit FOCUS online hat Ilona Bürgel die bislang größte Onlineumfrage zum Thema gestartet. 1270 Leserinnen und Leser nahmen teil und wurden nach ihren psychischen Ressourcen bei der Arbeit befragt. 700 Klicks hatte die Umfrage bereits am ersten Tag, für Bürgel ein klares Zeichen dafür, „wie wichtig das Thema vielen Menschen geworden ist“. Als klare Spitzenreiter gingen Neugier (Platz 1) und Freundlichkeit (Platz 2) aus der Onlinebefragung hervor. Am unteren Ende der Liste rangierten Dankbarkeit und Genussfähigkeit.

Nach Jahren der Überforderung scheinen wir uns Genuss bei der Arbeit kaum mehr vorstellen zu können“, so das Fazit der Expertin: „Dabei wird es genau darauf in den kommenden Jahren ankommen.

Grafik zur Onlineumfrage – FOCUS Online & Ilona Bürgel

Wohlbefinden steigert die Produktivität

Denn entscheidend für eine gute Vorbereitung auf die künftige Arbeitswelt werde es sein, so Bürgel, die Themen Nachhaltigkeit und Postwachstumsgesellschaft zu bearbeiten und dabei sowohl Sinn- als auch Genussfragen zu betrachten. „Genuss, also die Fähigkeit, sich an dem zu erfreuen, was vorhanden ist oder gerade geschieht, ist die zentrale Ressource“, betont die Expertin. Erstens, weil sie gerade in Zeiten der Instabilität, von Stagnation oder dem Ausbleiben des oft überschätzten Wachstums unser Wohlbefinden sichert. Zweitens, weil sie uns aus dem Hamsterrad des vorwiegend an Quantität orientiertem Höher-Schneller-Weiter hin zu mehr Lebens- und Arbeitsqualität führt. Und drittens, weil sie sofort wohltuend wirkt und dadurch Produktivität und Leistungsfähigkeit steigert.
Um Wellness geht es dabei nicht“, betont die Psychologin, „sondern um Existenzielles.“ Wer gut für sich selbst sorgt und seine psychischen Ressourcen nutzt, könne enorm profitieren. Und damit Mitarbeiter mehr Genuss bei der Arbeit empfinden, müssten Büros nicht zu Wellnessoasen gemacht werden. Es reiche durchaus, Mitarbeiter zu mehr Selbstfürsorge und einem gesunden Einsatz ihrer psychischen Ressourcen zu ermutigen.

„Kommt ein Mitarbeiter schwer erkältet ins Büro, verdient das keine Anerkennung. Im Gegenteil. Nicht nur, dass er sich selbst schadet und ohnehin nicht leistungsfähig ist, er wird voraussichtlich auch noch Kollegen anstecken und damit dem Unternehmen mehr schaden als nützen“, erläutert die Expertin ihr Credo an einem konkreten Bespiel.
Erst in den 1950er bis 1970er Jahren begann die Wirtschaftswissenschaft, sich mit dem „Humankapital“ als Produktivitätsfaktor zu beschäftigen. Der Fokus lag dabei auf dem Wissen und der Ausbildung der Mitarbeiter. In der psychologischen oder auch soziologischen Betrachtung von Ressourcen geht es heute um Talente, Charaktereigenschaften, geistige Haltung und Gesundheit. Um die Jahrtausendwende begann die Positive Psychologie als Wissenschaft eines gelingenden Lebens, sich mit Charakterstärken und deren Potenzial als Ressource zu beschäftigen. „Die besten psychischen Ressourcen für die Arbeit sind das von Fred Luthans definierte psychologische Kapital: Hoffnung, Optimismus, Resilienz, Selbstwirksamkeit“, unterstreicht Ilona Bürgel.

 

Mitarbeiter stärken und Vorbild sein

Zahlreiche Untersuchungen haben die beeindruckenden Auswirkungen nachgewiesen: Gesundheit, Arbeitszufriedenheit, Engagement und Servicequalität, Einzelleistung und Teamleistung verbessern sich. Die Produktivität steigt und – für die Zukunft der Unternehmen besonders wichtig – die Verbundenheit mit dem Unternehmen wächst. „Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Führungskräfte selbst den bewussten Umgang mit psychologischem Kapital vorleben“, so die Psychologin: „Dadurch stärken sie die Mitarbeiter und sind zugleich Vorbild.

Seitdem sich die promovierte Psychologin mit dem Thema Genuss bei der Arbeit befasst, hat sie keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, Menschen nach ihren psychischen Ressourcen im Job zu befragen. Die FOCUS Online-Umfrage bestätigte ihre Erfahrungen: Nach Favoriten gefragt, wurden von den meisten Teilnehmern gleich vier oder fünf Ressourcen angekreuzt. „Wir haben so viele Ressourcen, dass wir uns gar nicht entscheiden können, was uns wichtig ist. Aber an Genuss denken wir zuletzt“, ist die FOCUS-Kolumnistin überzeugt: „Genuss verbinden wir mit Schokolade, Wein oder einem guten Essen. Doch im Zusammenhang mit Arbeit trauen wir uns daran kaum zu denken.“
Damit wir auch morgen noch genauso gut und gerne arbeiten wie heute, empfiehlt uns die gefragte Referentin und Buchautorin, heute bereits vorzusorgen: „ Nur wenn es uns gut geht, können wir Top-Leistung erbringen.“

 

Genuss bei der Arbeit, ist Ilona Bürgel überzeugt, kann jeder lernen. Viele müssten ihn gar nur wiederentdecken. Ihre fünf wichtigsten Tipps im Überblick:

„Wer seine Stärken bei der Arbeit nutzt, ist sechs Mal häufiger engagiert und hat 40 Stunden Spaß“, weiß die Psychologin: Wer die eigenen Stärken nicht nutzt, brenne aber schon nach 20 Stunden aus, ganz egal, wie anstrengend die Arbeit ist.
Teambesprechungen, das Abendessen oder unsere Reflexion über den vergangenen Arbeitstag sollten wir mit den Dingen beginnen, die heute gelungen sind oder die uns gefreut haben.
Genussarbeiter“ sind nur halb so häufig ausgebrannt wie „Broterwerbsarbeiter“. „Der Schalter liegt in unserem Kopf“, so Bürgel: „Wir müssen ihn nur umlegen.
Wer sich einmal ärgert, sollte sich zum Ausgleich dreimal freuen, haben Wissenschaftler herausgefunden. Dies klingt anstrengender als es ist, denn unser Leben ist ja voll von schönen Dingen. Wir schätzen sie oft nur nicht.